Bevor er zum neuen Trend im katalanischen Tourismus wurde, galt er vielen als Freak. Er ist Botaniker, Experte für Konfliktmediation und der ebenso unruhige wie erfinderische Geist hinter der Ökotourismus-Agentur Naturalwalks. Seitdem er den Celler den Can Roca mit Wildkräutern und Blüten versorgt, feiern ihn die katalanischen Medien außerdem als den „persönlichen Druiden des besten Restaurants der Welt“. Ein Interview mit einem Grenzgänger…
Evarist March vermittelt Besuchern die Faszination der jüdischen Kultur Gironas anhand der Pflanzen, die in der Stadt wachsen. Er verrät, warum der Montjuic von innen hohl ist und erklärt, weshalb der Johannisbrotbaum die Entstehung Barcelonas erst möglich machte. „Wir wollen nicht informieren!“, ist ein Motto, dass er gerne und oft ausspricht. Mit seiner Agentur Naturalwalks verfolgt er ein anderes Ziel: „Wir wollen den Menschen, die mit uns in die Natur gehen, Erfahrungen vermitteln, die sie mit nach Hause nehmen und die ihnen in ihrem Alltag nützlich sind.“
KT: Erzähl uns ein wenig über das Konzept von Naturalwalks. Was macht eure Arbeit aus?
EM: Wir sind keine Naturführer im herkömmlichen Sinne. Für uns ist die Natur die Brücke zur Kultur, zur Gastronomie und den Menschen eines Landstrichs. Anhand der Natur kann ich die Landschaft Kataloniens erklären, die Landschaft wiederum verrät, wie wir hier in den letzten paartausend Jahren gelebt haben. Ich kann unsere mediterrane Diät erklären, deren Basis die mediterranen Pflanzen sind, mit denen wir Olivenöl produzieren, Aromen in unsere Gerichte bringen oder Arzneien herstellen. Anhand der verschiedenen Pflanzen kann ich erklären, wie wir traditionell gegessen, gebaut oder Werkzeuge hergestellt haben. Die Natur bildet für uns die Brücke, um den gesamten Charakter eines Ortes und seiner Menschen erfahrbar zu machen.
KT: Welche Philosophie steht hinter deiner Arbeit mit Naturalwalks?
EM: Im digitalen Zeitalter sind wir mit einem Überangebot an Information konfrontiert. Kein Naturführer der Welt kann mit der Menge an Information konkurrieren, die jeder seiner Zuhörer in Form eines Smartphones in der Tasche trägt. Deshalb konzentrieren wir uns in unserer Arbeit darauf, nicht einfach Information zu bieten, sondern Erfahrungen. Und was sind Erfahrungen? Erfahrungen sind Momente, in denen wir uns als Menschen fühlen, in denen wir in Verbindung sind mit dem, was wir vor Augen haben und dem was uns umgibt. Wir zeigen den Menschen, mit denen wir in die Natur gehen, essbare Pflanzen und Heilkräuter, wir zeigen ihnen, wie die Natur uns lehrt, nachhaltig zu sein. Wir wünschen uns, dass sie diese Erfahrungen mit nach Hause nehmen, sie verinnerlichen und im Alltag ihre Freude daran haben. In drei Schlagworten zusammengefasst geht es bei Naturalwalks um Nachhaltigkeit, Botanik und Ökotourismus.
KT: Wie kamst du auf die Idee, Naturalwalks zu gründen?
EM: Ich habe zehn Jahre als Biologe an Universitäten gearbeitet und fünf Jahre in Botanischen Gärten. Ich komme also einerseits aus der Welt der Wissenschaft, andererseits habe ich auch im sozialen Bereich gearbeitet, unter anderem in Projekten der Konfliktmediation – zunächst im Baskenland und dann zwei Jahre in Kolumbien. Naturalwalks ist sozusagen die Symbiose all der Dinge, die ich bislang im Leben gemacht habe und die mir wichtig sind. Ich liebe es, den Leuten die Natur zu zeigen, ich arbeite gerne mit Menschen, ich mag die Vielfalt in all ihren Aspekten und ich mag mein Land – und ich mag die Idee, dass die Natur alles verbindet.
KT: Was genau meinst du damit, wenn du sagst, dass die Natur alles verbindet?
EM: Ich kann meine Gäste zum Beispiel in die Welt der biblischen Pflanzen führen und von dort aus eine Verbindung zu anderen Religionen ziehen. Die gleichen Pflanzen werden auch von Palästinensern und Arabern, von Moslems und Ottomanen benutzt. Die Natur ist unparteiisch, sie kennt keine Grenzen. Sie erlaubt mir, an jedem Ort der Welt meiner Arbeit nachzugehen, und jeder Mensch kann ihre universelle Sprache verstehen.
KT: Du bietest botanische Führungen zur jüdischen Kultur Gironas an. Wie dürfen wir uns das vorstellen?
EM: Ich habe vor einiger Zeit die Direktorin des Jüdischen Museums von Girona getroffen und nachdem wir uns unterhalten hatten, kam mir die Idee, dass wir unseren Gästen Girona einmal aus einer anderen Perspektive zeigen könnten. Die Stadt Girona ist berühmt für ihre Verbindung zur jüdischen Kultur. Ich habe angefangen zu recherchieren und festgestellt, dass es eine Menge wissenschaftlicher Studien zur Bibel aus der Perspektive der Botanik gibt. Und da kam mir die Idee, dass wir eine Führung zur jüdischen Kultur der Stadt entwickeln könnten, bei der nicht die Gebäude, sondern die Pflanzen der Stadt im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ich will nicht Kultur im herkömmlichen Sinne vermitteln, ich führe die Menschen durch die Stadt und zeige anhand der Pflanzen Verbindungen auf. Es ist die Natur, die alles verbindet, in diesem Fall das heutige Girona mit dem alten jüdischen Girona.
KT: Kannst du uns ein Beispiel nennen?
EM: Ich zeige den Leuten Pflanzen, die in der Stadt wachsen, zum Beispiel die Weinpflanzen. Der Wein ist die am zweithäufigsten in der Bibel erwähnte Pflanze und er hatte für das tägliche Leben der Menschen eine enorme Bedeutung. In der Stadt Girona haben wir vor allem Weinranken, mit denen wir gerne unsere Terrassen überdachen. Diese Pflanze gibt uns einerseits Schatten, andererseits nutzen wir ihre Trauben in verschiedensten Formen. Wir können die Früchte essen, als Trockenfrüchte sind die Rosinen haltbare und energetische Nahrung, deshalb waren sie in früheren Zeiten ein unverzichtbarer Begleiter auf Reisen. Wein genoss man nicht nur als Getränk, man nutzte ihn auch, um Essen und Medizin haltbar zu machen. Auf einer anderen Ebene ist der Wein eine Pflanze von hoher Symbolkraft und integraler Bestandteil der christlichen Messen.
Wir kultivieren nun seit über 4000 Jahren Weinpflanzen, wir modifizieren sie, so dass sie auch in vergleichsweise kalten Regionen wie Deutschland wachsen können. Wir nutzen die Pflanze auf verschiedenste Arten und diese modifizierte Natur nennen wir dann Kultur. Das gilt für Feigen-, Oliven- und Johannisbrotbäume genauso wie für den Wein. Anhand dieser Pflanzen kann ich erklären, wie die Menschen vor hunderten und tausenden von Jahren gelebt haben.
KT: Das klingt spannend, aber um das, was du sagst, ganz zu verstehen, muss man sich sicherlich mit dir auf den Weg machen. Welche Bedeutung eine Pflanze haben kann, die Schatten auf einer Terrasse spendet, wird uns Deutschen zum Beispiel erst wirklich klar, wenn wir eine Weile unter mediterraner Sonne unterwegs waren…
EM: Ja, das ist richtig. Es geht uns ja darum, Erfahrungen zu vermitteln und nicht theoretisches Wissen. Dazu gehört, zu sehen und zu hören, aber selbstverständlich auch, die Pflanzen zu riechen, zu schmecken, zu berühren. Wir möchten nicht, dass die Leute am Ende der Führung Informationen im Kopf haben, wir möchten lebendige, sinnliche Erfahrungen vermitteln, die in Erinnerung bleiben.
KT: Erzähl uns trotzdem noch etwas mehr darüber, wie ihr die Kultur Kataloniens anhand der Natur vermittelt..
EM: Ein einfaches und beeindruckendes Beispiel ist für mich Barcelona. Ich kann unseren Besuchern die Geschichte Barcelonas veranschaulichen, indem ich sie zum Montjuic führe. Barcelona ist erbaut aus den Steinen, die in unmittelbarer Nähe zu finden waren, in diesem Fall aus dem Gestein des Montjuic, einem Gebirge, das von innen praktisch hohl ist. Ohne den Montjuic sähe Barcelona ganz anders aus, denn die Stadt wäre aus anderem Stein gebaut. Um die Stadt zu bauen, brauchte man aber nicht nur Steine, sondern auch ein Mittel, um diese Steine zu transportieren.
Der Schlüssel zum Transport der Steine waren die Johannisbrotbäume, die in der Nähe wuchsen. Sie lieferten den Zugtieren energiereiche Nahrung, die den Transport der Steine in Hitze und Trockenheit erst möglich machten. Die Johannisbrotbäume sind perfekt angepasst an die Lebensbedingungen des Mittelmeerraumes, und sie wachsen an keinem anderen Ort der Welt. Sie haben eine ganz besondere Fähigkeit, derer sich fast niemand bewusst ist: sie kommen praktisch ohne Wasser aus. Genauso ist sich auch kaum einer der Tatsache bewusst, dass dann, wenn die meisten Touristen nach Barcelona kommen, die wichtigste Ressource, um Tourismus zu entwickeln, extrem knapp ist: Wasser. Wenn du im Mittelmeerraum in der Natur unterwegs bist, wirst du es sehen: Im Sommer gibt es hier vergleichsweise wenige Pflanzen. Die Steine des Montjuic hätten nicht in die Stadt transportiert werden können, ohne die Johannisbrotbäume. Diese spendeten Schatten und ihre zuckerreichen Früchte gaben den Zugtieren die nötige Energie.
KT: Klingt nach einer Geschichte über die intelligente und nachhaltige Nutzung von Ressourcen…
EM: Ja, die Natur kann uns mehr als jeder andere über Nachhaltigkeit lehren. Tatsächlich halte ich auch Seminare für Firmen über Nachhaltigkeit. Ich führe die Leute dann in eine mediterrane Landschaft und zeige ihnen, was die Pflanzen uns über Nachhaltigkeit lehren, wie man es vermeidet, Wasser zu verschwenden und wie man in einem von starker Konkurrenz geprägten Umfeld operiert. Für viele Dinge muss man gar nicht so viel Theorie wissen, sondern einfach nur mit offenen Augen in die Natur gehen und verstehen, wie sie funktioniert.
KT: Die Natur als Lehrmeisterin für den Alltag?
EM: Ja, und das ist eigentlich sehr naheliegend. Ich sage immer, dass wir den Menschen ein Material zeigen, welches das exakt gleiche Material ist, aus dem wir Menschen selbst bestehen. Unsere Zellen sind genau die gleichen, wie die aller anderen Lebewesen. Die Pflanzen haben Chlorophyll, wie haben Hämoglobin. Bis auf ein Molekül sind wir praktisch gleich. Und das ist für mich etwas ganz Grundlegendes: Wir können auf so viele verschiedene Arten empfinden: wir können riechen, schmecken, fühlen, hören, sehen. Als Naturführer sehe ich meine Aufgabe darin, genau darauf hinzuweisen, denn wir verlieren immer mehr den Kontakt zur Natur.
KT: Was meinst du damit konkret?
EM: Wir kennen die Namen aller möglichen Autos, aber nicht mehr die Namen der Pflanzen, die hinter unserem Haus wachsen. Besonders verrückt wird es für mich, wenn ich sehe, wie Familien mit Kindern einen „Ausflug in die Natur“ machen. Sie setzen sich ins Auto, drehen die Musik voll auf und sobald sie im Wald ein Stück Gras finden, fangen sie an, Fussball zu spielen. Sie reproduzieren draußen genau die gleichen Verhaltensweisen, die in der Stadt üblich sind. Ihnen fällt nicht auf, dass sie an einem Ort sind, der still ist und wo man etwas anderes tun könnte als das Radio aufzudrehen.
Andererseits denken die meisten Menschen, die Natur fange irgendwo weit, weit entfernt von der Stadt an. Das ist nicht wahr, und deshalb mache ich Naturführungen innerhalb der Städte. Wir sind überall von Natur umgeben und wir sind ein Teil von ihr. Wir müssen nicht weit weg fahren, um Natur zu erleben, sondern wir müssen achtsam mit dem umgehen, was uns umgibt. Deshalb tun wir, was wir können, um unsere Angebote so zu gestalten, dass die Leute unterwegs Spaß haben und dass sie an dem, was sie gelernt haben, auch im Alltag Freude haben.
KT: Dann nenn uns doch zum Abschluss noch ein paar Beispiele dafür, wie du das anstellst?
EM: Wir bieten in diesem Sommer zum Beispiel Kajak-Ausflüge an der Costa Brava an, bei denen die Teilnehmer essbare Pflanzen und Algen bei einem Ausflug zu den schönsten und ursprünglichsten Gebieten der Küste kennenlernen. Ein anderes Angebot findet im Montseny statt: Dort geht es um die Kräuter, die seit Jahrhunderten genutzt werden, um den beliebten Aperitif Ratafia zuzubereiten. Und dann haben wir noch unser Angebot „Ferien zwischen Kräutern und Wildblumen der katalanischen Pyrenäen“, bei denen unsere Gäste unterschiedliche Pyrenäenlandschaften, ihre Sitten und Bräuche sowie die Pflanzen und Kräuter und deren traditionelle Nutzung kennenlernen können.
Info und Buchung über:
Naturalwalks
www.naturalwalks.com
info@naturalwalks.com
Tel: +34 662 251 059
+34 972 162 029
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