Hatten Sie schon einmal das Gefühl, in Ihrer Einzigartigkeit nicht so richtig zur Geltung zu kommen, weil Sie im Schatten eines anderen stehen? Trösten Sie sich, mit diesem Gefühl sind Sie in bester Gesellschaft. Der Stadt Reus geht es zum Beispiel ständig so. Vermutlich wäre der Geburtsort Antoni Gaudís ein hochberühmtes Zentrum des katalanischen Jugendstils, wenn da nicht Barcelona wäre. Barcelona ist eben die Stadt, neben der auf den ersten Blick alle anderen Städte blass aussehen. Im Falle von Reus lohnt sich aber definitiv ein zweiter Blick.
Reus, Paris und London
Diese Aufzählung ist wohl der Wunschtraum einer Provinzstadt, die immer nur die zweite Geige spielt, nicht wahr? Weit gefehlt! Es gab eine Zeit, in der London, Paris und Reus in einem Atemzug genannt wurden, weil diese drei Städte die ganz großen Player einer machtvollen Branche waren: Im 18. Jahrhundert war Reus eines der bedeutendsten Zentren der europäischen Schnapsproduktion.
Im 19. Jahrhundert setzte Reus noch einen drauf und wurde zum führenden Produzenten eines Getränkes, das über Generationen den mediterranen lifestyle bestimmte: Wermut, – oder ‚vermut‘ auf Katalanisch – eroberte die Iberische Halbinsel und später die halbe Welt von Reus aus. Mit welcher Professionalität dies geschah, verdeutlicht die Anekdote vom Wermut-Produzenten Rofes. Dessen Lagerhallen waren durch spezielle Tunnel mit der Zugstation von Reus verbunden, um eine reibungslose Verteilung des ebenso geschmackvollen wie heilsamen Getränkes über die gesamte Iberische Halbinsel sicherzustellen.
Aber Reus ist nicht einfach die Produktionsstädte des Vermut, Reus ist die Stadt des Wermut. Wermut wiederum ist nicht einfach ein Getränk, sondern ein Lebensstil. Den entdecken derzeit nicht nur die Europäer für sich wieder, sondern auch die Amerikaner und die Asiaten. Weshalb das so ist, wie man Vermut herstellt, wie man ihn trinkt und was man dazu genießt, erfährt man auf der Route des Vermut in Reus – eine kleine Kulturgeschichte dieses Klassikers unter den Getränken inklusive.
Wermut – Die Fakten
Wermut ist ein mit Kräutern aromatisierter Likör mit einem Alkoholgehalt von 14,5-22% Vol., dessen Grundzutaten Wein und Wermutkraut sind. Aus diesem Grund bezeichnen manche Experten Wermut auch als einen „Kräuter-Wein“, aber über diese Feinheiten wollen wir hier nicht streiten.
Einigkeit besteht darüber, dass sich zu Wein und Wermutkraut eine große Menge weiterer Kräuter, Wurzeln, Blüten und Gewürze gesellt, die sich auf unterschiedlichste Art und Weise zu Wermut kombinieren lassen. So ist es möglich, dass im Reus des 19. Jahrhunderts 30 Hersteller insgesamt 50 unterschiedliche Sorten Wermut produzierten. Noch heute werden bei der Herstellung von Wermut 50 bis 80 unterschiedliche Zutaten verwendet. So entsteht ein großes Spektrum von Geschmacksnuancen, Düften und Tönen, die jeweils charakteristisch für die einzelnen Sorten sind.
Übrigens ist Wermut ausgesprochen gesund, jedenfalls dann, wenn man ihn in Maßen trinkt. Die Bitterstoffe regen den Verdauungsapparat an, und Wermutkraut reinig und stärkt das Immunsystem. Hippokrates verwendete Artemisia Absinthium, wie der klangvolle lateinische Name des Krautes lautet, auch als Mittel gegen Gedächtnisschwäche. Tatsächlich kann man heute nachweisen, dass es einen Rezeptor im Hirn aktiviert, der hilft, ein Nachlassen der Hirnfunktion zu unterbinden.
Wermut – Die Geschichte
Wermut ist der Trend der Stunde – und blickt doch auf eine Geschichte von mehreren tausend Jahren zurück. Das noble Getränk kann seinen Stammbaum bis zu den antiken Hochkulturen verschiedener Kontinente zurückverfolgen. In China trank man mit Kräutern, Blüten und Wurzeln versetzten Wein ebenso wie in Mesopotamien und Ägypten. Im antiken Griechenland mischte Hippokrates aus den bereits erwähnten medizinischen Gründen Wein mit Wermutkraut, eine Tradition, die ehrenvollerweise im Deutschland des 16. Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde. Das gesunde Getränk erhielt in Anlehnung an das Kraut, das seinen Geschmack bestimmt, den klangvollen Namen Wermut, der von den europäischen Nachbarn als Vermouth, Vermuth oder eben Vermut adaptiert wurde. Verfeinert wurde der Wermut dann von den Italienern. Antonio Benedetto Carpano machte sich unsterblich, indem er jene Rezeptur entwickelte, welche die Basis der modernen Wermutproduktion bildet.
Wermut – Der Kult
Cary Grant, Frank Sinatra und Ernest Hemingway schätzten den Wermut über alle Maßen. Böse Zungen behaupten, dass einige der besten Werke Dalís unter dem Einfluss größerer Mengen von Wermut entstanden. Darüber hinaus ist Wermut fester Bestandteil der mediterranen Alltagskultur, die bekanntlich einige kreative Wege gefunden hat, die Zeit anzuhalten und das Leben zu genießen.
In Katalonien trinkt man den Wermut klassischerweise als appetitanregenden Aperitif vor dem Mittagessen – natürlich mit Freunden unter blauem Himmel auf einer lauschigen Terrasse. Ob man eine süße, bittere oder gar pikante Variante bevorzugt, ist Geschmackssache. Die Auswahl ist groß. In Reus allein bieten sieben Produzenten über 30 unterschiedliche Varianten dieses Klassikers unter den Aperitifs an.
Der “vermuteo”, also die zum Ritual avancierte Zusammenkunft am Mittag, in deren Mittelpunkt der Wermut steht, gilt heute als soziales Phänomen, mit dem sich Food-Journalisten und Kulturwissenschaftler mit großer Freude auseinandersetzen. Das einstige Rentner-Getränk hat die Herzen der Hipsters wiedererobert, die in der Vielzahl unterschiedlicher Marken, Farben und Geschmacksnuancen eine willkommene Möglichkeit finden, ihrer Individualität durch den Genuss des legendären Kräuterlikörs stilvollen Ausdruck zu verleihen.
Und doch ist der „vermuteo“ alles andere als eine egozentrische Angelegenheit. Es ist die Pflege einer Tradition, die Zeit gibt für Gespräche mit Freunden, bei denen man gelegentlich von der Muse geküsst wird wie Salvador Dalí – oder zumindest einmal das Handy in der Tasche lässt und sich einfach ganz prächtig mit den gerade anwesenden Menschen amüsiert.
Die Route des Vermut
Der beste Ort für eine Initiation in die traditionsreiche Kunst des „vermuteo“ ist natürlich Reus. In der Welthauptstadt des Wermut erfährt man auf der Route des Wermut alles über „die Stunde des Wermut“, die traditionsreichen Vermuterias der Stadt und den geheimnisvollen Herstellungsprozess des magischen Getränks. Darüber hinaus gibt es reichlich Gelegenheit, Wermut zu verkosten oder bei einer maridatge die kulinarischen Wonnen des Wermut mit dem Genuss ausgesuchter Speisen zu verbinden. Ein Highlight der Wermuterfahrung in Reus ist zweifellos ein Besuch des Museu del Vermut, das anhand einer riesigen Anzahl von Ausstellungsstücken die ebenso spannende wie kuriose Geschichte des Wermut und seines Siegeszugs um die Welt erhellt.
Aber natürlich gibt es in Reus noch viel mehr zu tun, als Wermut zu trinken. So kann man zum Beispiel auf der Route des Modernismus 29 Bauwerke des katalanischen Jugendstils bei einem angenehmen Spaziergang erkunden. Interessanterweise stammt kein einziges dieser Gebäude vom hier geborenen Antoni Gaudí. Bekanntlich gilt der Prophet nichts im eigenen Land, und während sein durchaus begabter Kollege Lluís Domènech i Montaner in Reus einen Bauauftrag nach dem nächsten einstrich, ging Antoni Gaudí hier leer aus. Statt dessen formte er in unnachahmlicher Weise das Stadtbild Barcelonas und hinterließ der Metropole im Zuge dieser Unternehmung auch gleich sieben Gebäude, die heute Weltkulturerbestatus haben. Zwei weitere Weltkulturerbestätten der katalanischen Hauptstadt gehen allerdings auf das Konto von Domènech i Montaner. Dessen architektonische Kunststücke kann man fernab der großen Touristenströme Barcelonas in aller Ruhe in Reus bewundern. Inzwischen ist mit dem Gaudí Centre auch dem berühmtesten Sohn der Stadt ein Museum gewidmet worden, in dem man das künstlerische Universum Gaudìs mit allen Sinnen erkunden kann. Wir wünschen Ihnen einen genussvollen und inspirierenden Aufenthalt in Reus!
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