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Natur und Industriekultur – Die Route der Textilkolonien im Berguedà

Die Geschichte des Berguedà wäre völlig anders verlaufen, wenn es den Llobregat nicht gäbe. Besonders prägend für die Entwicklung der Region war der Fluss ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit entdeckte Kataloniens Textilindustrie die Wasserkraft als ebenso effiziente wie kostengünstige Energiequelle. Die Flusslandschaft mit ihren Feldern und Wäldern, den alten Burgern, Dörfern, Kirchen und Klöstern wurde zum Standort  von Textilfabriken. An diese angeschlossen waren Wohnbereiche für die Arbeiter, die sogenannten colònies tèxtils.

Ein Leben am Fluss: Colònia tèxtil de Cal Rosal. © Turismo Verde S.L.

Mit Zeitzeugen die industrielle Vergangenheit entdecken

In den letzten Jahren sind die Textilkolonien am Llobregat restauriert worden. Auf der Ruta de les colònies tèxtils können Besucher nun die Vergangenheit dieser außergewöhnlichen Orte erkunden.  Manche der Textilkolonien waren noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Betrieb. Daher ist es möglich, das heute ehemalige Bewohner die Gäste durch Wohnanlagen und das Fabrikgelände führen. Sie erzählen von einem historischen Alltag, der noch gar nicht weit zurückliegt. Die Besucher erfahren auf diese Art interessante Einzelheiten über den Alltag in den Kolonien. Außerdem gewinnen sie Einblicke in das paternalistisch geprägte Lebensmodell, das diesem Alltag zu Grunde lag.  Nicht zuletzt wird auf der Route der Textilkolonien deutlich, welch gravierenden Einfluss diese auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region Berguedà hatten.

Strenge Regeln und “sozialer Frieden”

Die Textilkolonien bestanden aus mindestens zwei, oft aber auch drei klar von einander abgegrenzten Bereichen. Jede der Kolonien umfasste  das Industriegelände mit der Fabrik und ihren Maschinen, sowie Schleuse, Kanal und Turbinen. Weiterhin beherbergte jede der Kolonien den Lebensbereich der Arbeiter und ihrer Familien. Da die Textilkolonien fernab gewachsener Städte und Dörfer entstanden, umfasste dieser Lebensbereich viele verschiedene Elemente. Neben den Arbeiterwohnungen fanden sich hier auch Geschäfte des täglichen Bedarfs. Auch Schulen, Theater, Sportplatz und Kirchen fehlten nicht.  In diesem Sinne war jede Textilkolonie eine Welt für sich, in deren Zentrum die Arbeit in der Fabrik stand.

Der “soziale Frieden” im Mikrokosmos der colònia tèxtil wurde gesichert durch ein ausgewähltes Unterhaltungs- und Kulturprogramm. Die knappe Freizeit war ausgefüllt mit Theater, Sport- und Musikveranstaltungen. Überdies boten Ausflüge in die Natur der umgebenden Wald- und Flusslandschaften  eine Form der Zerstreuung, die letztlich der Arbeitskraft förderlich war. Die in die Kolonie integrierte Kirche war ein weiterer Faktor, der diese Ordnung stabilisierte. Nicht zuletzt wachten auch die Fabrikbesitzer selbst über das Leben in der Kolonie. Sie residierten – zumindest zeitweise – in den sogenannten torres de l’amo. Diese luxuriösen Herrenhäuser lagen in der Regel oberhalb der Kolonien. Daher ermöglichten sie einen “Blick von oben” auf alle Lebensvorgänge dieser speziellen Mikrokosmen.

Über den Kolonien erhoben sich luxuriöse Herrenhäuser © Turismo Verde S.L.

Der Parc Fluvial del Llobregat und die Route der Textilkolonien

Folgt man dem Verlauf des Llobregat zwischen den Orten Berga und Balsareny, so stößt man auf insgesamt 16 Textilfabriken mit den ihnen angeschlossenen Kolonien. In der umgebenden Landschaft ist der Parc Fluvial del Llobregat als Freizeit- und Erholungsgebiet geschaffen worden. Besucher können hier  die reizvolle Flusslandschaft beim Radfahren und Wandern genießen. Überdies können sie aber auch die Lebenswirklichkeit der alten Textilkolonien kennenlernen. Interpretationszentren, Freilichtmuseen und geführten Besuche durch Fabriken und Arbeiterwohnungen geben spannende Einblicke in die industrielle Vergangenheit.

Für Wanderer und Radfahrer gibt es im Parc Fluvial viele markierte Wege. Ferner kann man die mannigfaltigen Aspekte von Natur und Industriekultur des Ortes auch auf Autorouten erkunden. So gibt es zum Beispiel einen Weg zu den Quellen der Region und für Outdoor-Aktive die Möglichkeit zum Klettern oder Canyoning. Wer sich ein umfassendes Bild vom Leben in den Textilkolonien machen möchte, für den ist die Route von Viladomiu Nou nach L’Ametlla de Merola perfekt. Sie führt übrigens auch über Cal Pons und Cal Vidal. Wer hier mit einem Guide unterwegs ist, kann sich ein genaues Bild vom Leben der Arbeiter, aber auch vom Leben der Fabrikbesitzer machen.

Die Colonia de Viladomiu Nou

Die Kolonie Viladomiu Nou in Gironella geht zurück auf eine alt eingesessene Familie des Berguedà. Diese war bereits im Jahr 1868 mit einer ersten Kolonie in das Textilgeschäft am Llobregat eingestiegen. Viladomiu Nou ist ein 1880 entstandener Ableger jener ersten Kolonie, Viladomiu Vell. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Fabrik noch einmal vergrößert. Im Zuge dieses Ausbaus wurde auch zusätzlicher Wohnraum geschaffen. Während des Bürgerkrieges wurde Viladomiu Nou kollektiviert. Nach Ende des Krieges ging die Fabrik dann aber doch wieder in den Besitz der Familie Viladomiu über und war noch bis 1991 in Betrieb. Die Kolonie ist bis heute noch von ehemaligen Arbeitern bewohnt, welche die ursprüngliche Atmosphäre und Lebensform des Ortes lebendig halten. Die Fabrik hat übrigens einen neuen Besitzer gefunden und ist inzwischen wieder in Betrieb.

Arbeiterhäuser in Viladomiu Nou © Imagen M.A.S.

Das Interpretationszentrum im Torre de l’Amo

Für Besucher ist die Textilkolonie Viladomiu Nou mit ihrem Interpretationszentrum im Torre de l’Amo der perfekte Startpunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Die Besitzer der Textilfabriken waren die Reichsten der Reichen jener Epoche. Ihr oberhalb der Fabrik gelegenes Wohnhaus war Symbol von Reichtum und Macht der Familie. 1902 fertig gestellt, vermittelt das herrschaftliche Haus mit seinem Interpretationszentrum den heutigen Besuchern eindrucksvoll, was es bedeutete, vor 100 Jahren eine Textilfabrik zu leiten.

Vom hiesigen Aussichtspunkt bietet sich nicht nur ein überragender Blick über die gesamte Kolonie, sondern auch auf die Schönheit der nahegelegenen Pyrenäenvorläufer. Eine weitere Ausstellung im Haus führt die Besucher in den Fabrikalltag und das Leben der Arbeiter ein. Weitere Sehenswürdigkeiten sind die zwischen 1900 und 1951 erbauten Arbeiterhäuser und die 1905 eingeweihte Kirche. Ferner ist der ehemalige Kindergarten sehenswert. Er wurde 1943 umgebaut, um eine Nonnengemeinschaft aufzunehmen. Weitere Sehenswürdigkeiten sind die Jungenschule, die Mädchenschule und insbesondere das Theater-Kino. Es bot Platz für 426 Besucher, wird aber aufgrund eines Brandes in den 90er Jahren heute nicht mehr benutzt

Das Herrenhaus von Viladomiu Nou ist heute ein Interpretationszentrum © Imagen M.A.S.

Die Colònia Pons 

Wenige Kilometer weiter in Puig-Reig am Llobregat befindet sich Cal Pons. Die 1875 errichtete Anlage ist eines der besten Beispiele für den Mikrokosmos Textilkolonie. Neben der Fabrik und den Arbeiterwohnungen ist auch die Schule, ein Garten, Lebensmittelgeschäft und Bäckerei, ein Café und ein Wirtshaus erhalten. Überdies gibt es auch auch eine Kirche und ein Nonnenkloster. Die aufwendig ausgestattete Kirche, die von der damaligen Presse als “Kathedrale des Alt Berguedà” bezeichnet wurde, enthält auch das Familiengrab der Familie Pons. Diese hatte in der Kolonie gleich zwei herrschaftliche Residenzen erbaut . Die neue torre de l’amo aus dem dem Jahr 1897 nimmt einen Raum von 442m2 ein und hatte im Jahr 1908 die Ehre, den König von Spanien, Alfonso XIII zu beherbergen.
Im Interpretationszentrum der Kirche von Cal Pons geben drei Museumsräume detaillierte Auskunft darüber, welche Rolle die Kirche im System der Industriekolonien Kataloniens gespielt hat.

Die Kirche der Colònia Pons © Imagen M.A.S.

Die Colònia Vidal

Ebenfalls in Puig-Reig liegt die Colònia Vidal, vermutlich die bekannteste Textilkolonie im Parc Fluvial del Llobregat. Sie war die letzte Kolonie, die im Jahr 1900 im Berguedà eröffnet wurde und bietet Besuchern ein interessantes Besichtigungsprogramm. Dessen Schwerpunkt liegt auf den technischen Aspekten der Textilindustrie. Die Schleuse, der Kanal und die Turbinen sind hier besonders eindrucksvoll. Gleiches gilt für die alte Dampfmaschine. Wer im Inneren der Fabrik interessiert auf die alten Werkzeuge und die Webstühle schaut und den Erklärungen zur Webtechnik lauscht, wird hier eine Menge über die Stoffproduktion lernen.

Die Colònia de Vidal bietet jedoch nicht nur tiefe Einblicke in die Arbeit in der Fabrik, sondern auch in das Leben der Arbeiter. Hier kann man eine Arbeiterwohnung besichtigen, außerdem die Schule und die Bibliothek. 1947 wurde in der Colònia Vidal eine Miniaturkopie des Gran Teatre del Liceu in Barcelona erbaut, von der aufgrund eines Brandes jedoch leider nur Ruinen übrig sind. Am Eingang der Kolonie befindet sich das Museu de la Colònia Vidal, das geführte Besichtigungen anbietet. Die alte Bahnstation des Ortes ist heute der Sitz der Tourismusinformation. Sie fungiert sozusagen als Tor zu den Textilkolonien des Llobregat.

Webstühle in der Textilfabrik der Colònia Vidal 1 © Servicios Editoriales Georama

Die Colònia L’Ametlla de Merola

Die Kolonie L’Ametlla de Merola unterscheidet sich rein optisch von anderen Kolonien des Berguedà durch ihren “dörflichen” Charakter. Der Wohnbereich der Arbeiter bestand vor allem aus kleinen, weißgetünchten Einfamilienhäusern. Sie waren aufgereiht in langen Straßen, welche den Kirchplatz, den Marktplatz und den Platz des Theaters umgaben. Die Archtitektur der Arbeiterhäuser erinnert an die alten Fischerhäuser im Maresme, jener Region aus welcher der Gründer der Kolonie, Mateu Serra ursprünglich stammte. Die Textilfabrik von L’Ametlla de Merola arbeitete sehr erfolgreich und nahm stetig an Größe zu. Im Jahr 1913 erstreckte sich die 1864 erbaute Kolonie bereits über eine Fläche von 98.577m2.

Diese Entwicklung ging nicht ohne Konflikte von statten. Eine Protestwelle, die sich über mehrere Kolonien des Berguedà erstreckte, führte zur Entlassung von 200 Arbeitern. Im Anschluss kam es zur Implementierung weiterer Kontrollmaßnahmen. Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Pfarrer der Kolonie.  Er fungierte als das wachende Auge des Besitzers einerseits und als Vermittler für die Bedürfnisse der Arbeiter andererseits. Somit hatte er die Rolle eines Hüters des paternalistischen Lebensmodells inne.

Blick über die geschichtsträchtige Colònia L’Ametlla de mar © J.Cano DiBa

Dieses gewährte den Arbeitern Wohnraum, gute Infrastrukturen, Stabilität und Schutz. Im Gegenzug forderte es Fleiß, Gehorsam und Einhaltung des „sozialen Friedens“ gefordert. Die Hauptsehenswürdigkeiten der Kolonie sind das 1902 erbaute Theater, in dem noch heute die traditionellen Pastorets de L’Ametlla de Merola aufgeführt werden, die 1882 erbaute Kirche, das Café, welches einst das Zentrum des sozialen Lebens der Kolonie bildete und die hier besonders reizvolle Flusslandschaft des mäandernden Llobregat mit artenreicher Ufervegetation, Gärten, Feldern, Wäldern.

Die Colònia Rosal

Die Textilkolonie Rosal ist zwar nicht Teil der Route des Parc Fluvial del Llobregat, aber dennoch aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens ist sie die erste Textilkolonie, die im Berguedà gegründet wurde, zweitens war sie eine der größten, in der zeitweise bis zu 1200 Arbeiter lebten. Drittens war die Familie Rosal, welche die Kolonie gegründet hatte, ganz entscheidend daran beteiligt, dass der Landkreis einen Eisenbahnanschluss erhielt. Cal Rosal hatte ab 1887 eine eigene Bahnstation, was aus logistischen Gründen unerlässlich war, jedoch auch der Region als ganzer sehr zu gute kam. Als die Colònia Rosal in den 90er-Jahren ihre Tore schloss, galt der Untergang der im Berguedà so traditionsreichen Textilindustrie als definitiv besiegelt.

Colònia tèxtil de Cal Rosal. © Turismo Verde S.L.

Weitere Infos zur Route der Textilkolonien im Berguedà gibt es hier.

Tipp:

Die Colònia Güell in Santa Coloma de Cervelló ist von Barcelona aus in 20 Minuten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen und bietet nicht nur Einblicke in die Industriekultur der Epoche, sie beherbergt auch eines der interessantesten Gebäude des Modernismus. In der Krypta der Colònia Güell experimentierte Antoni Gaudí mit all Techniken, Formen und dekorativen Elementen, die schließlich Eingang in sein unvollendetes Meisterwerk, die Sagrada Familia finden sollten. Seit 2005 trägt das faszinierende Gebäude inmitten der Industriekolonie den Status Unesco-Welterbe.
Weitere Infos gibt es hier.

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