Kennen Sie das? Sie fahren mit dem Auto über eine Landstraße in den Pyrenäen. Die ganze Zeit sind Sie versucht anzuhalten, auszusteigen und sofort die Geheimnisse der Gebirgslandschaft abseits der Landstraße zu erkunden. Ganz anders geht es den betagten Bewohnern der Region. In stoischer Ruhe treten sie den Asphalt der Landstraße und bewegen sich gemächlichen Schrittes einem uns unbekannten Ziel entgegen. Weshalb ziehen diese Leute die Monotonie des Asphalts den Reizen der alten Hirtenpfade vor? Warum schauen sie lieber auf die Landstraße als auf die Gebirgspanoramen, die Wanderer aus aller Welt begeistern?
Mireia Font Vidal, dreifache Mutter, Gastwirtin des Landhauses Casa Leonardo und die Urheberin des mehrfach preisgekrönten Wanderweges El Cinquè Llac, kennt die Antworten auf diese Fragen. Mit dem „Wanderweg zum Fünften See“, dem Cinquè Llac, hat sie ein nachhaltiges Tourismusprojekt geschaffen, das nicht nur Europäer, sondern auch schon Wanderer aus Hawaii und Neuseeland begeistert hat.
Der wahre Erfolg dieses Weges zeigt sich aus der Sicht seiner Urheberin jedoch auf einer anderen Ebene: Die älteren Leute in der Region haben wieder begonnen, den Zauber ihrer einsamen Gebirgslandschaft wahrzunehmen. Sie bringen ihren Dörfern, ihrer alten Kultur und sich selbst eine neue Wertschätzung entgegen – und manche von ihnen beginnen, die Schönheit der alten Gebirgspfade für sich wiederzuentdecken.
Über die Ursachen dieses erstaunlichen Wandels, die Entwicklung einer verrückten Idee zu einem preisgekrönten touristischen Produkt, die Dialektik des Eigenen und des Fremden sowie die Frage, welchen Einfluss der Geist ihrer Großmutter auf die erfolgreiche Durchführung des Projekts hatte, spricht Mireia mit uns im Interview.
Katalonien-Tourismus: Mireia, erzähl uns ein bißchen über die Gegend, durch die der Wanderweg El Cinquè Llac verläuft…
Mireia Font-Vidal: El Cinquè Llac ist ein etwa hundert Kilometer langer Fernwanderweg, der durch authentische und bis heute vom Tourismus nahezu unentdeckte Pyrenäenlandschaften führt. Das liegt daran, dass unsere Region, der Pallars, seit Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere in den 60er-Jahren eine starke Landflucht erlebt hat. Viele Dörfer sind nahezu vollständig verlassen zurückgeblieben. Die einstigen Obst-, Getreide- und Gemüsefelder sind den Wäldern gewichen und die traditionellen Gebirgspfade sind, seit es die Landstraßen gibt, fast vollständig in Vergessenheit geraten.
Die meisten Bewohner der Pyrenäen sind ältere Menschen, das gilt ganz besonders in unserer Region. Die Bevölkerung lebt verstreut in abgelegenen Dörfern und die gebirgige Landschaft erschwert die Mobilität. Wir Bewohner des Pallars gelten als Leute mit einem verschlossenen Charakter, die tief verwurzelt sind in ihrer Heimat. In gewisser Weise kann man unsere Region mit einem Cherokee-Reservat vergleichen: Sie ist das Resultat ihrer geographischen Isolation, wirtschaftlich wenig entwickelt und geprägt durch die Schwierigkeiten einer Gebirgslandschaft mit einem Straßennetz, das erst in den letzten Jahren ausgebaut wurde. Aber all diese Widrigkeiten hatten letztlich auch einen entscheidenden Vorteil: Durch die geographische Isolation hat die Region ihre Authentizität bewahrt und ihre Traditionen sind erhalten geblieben.
Katalonien-Tourismus:
Wie bist du nun auf die Idee gekommen, einen Wanderweg ins Leben zu rufen?
Mireia Font-Vidal: Ich betreibe ja seit über 15 Jahren ein kleines Landhotel in meinem Heimatdorf Senterada. Deshalb wusste ich aus erster Hand, dass unsere Gäste nicht in erster Linie wegen der hübschen Hotels hierherkommen, sondern wegen der unberührten Naturlandschaft und der Pyrenäenkultur, die hier noch lebendig ist.
Allerdings kamen unsere Besucher immer sehr punktuell an Wochenenden, Feiertagen und in den Ferienzeiten. Damit die Landhotels in der Region als kleine Familienbetriebe vom Tourismus leben konnten, mussten wir einen Weg finden, auch außerhalb der Hochsaison Gäste anzuziehen. Ein Wanderweg, der auf ein internationales Publikum ausgerichtet ist, schien also für unsere Zwecke auf Anhieb das ideale touristische Produkt zu sein.
Gleichzeitig kam mir der Gedanke, dass es unsere Aufgabe war, etwas für diese Region zu tun, die ja unsere Lebensgrundlage ist. Ich glaube, die entscheidenden Veränderungen, die diese Welt braucht, werden nicht aus der Politik kommen. Diese Veränderungen entstehen durch uns, wenn wir genau dort, wo wir uns gerade befinden, etwas tun, um die Welt ein wenig besser zu machen.
Katalonien-Tourismus: Deshalb hast du das Projekt so auf Nachhaltigkeit ausgerichtet?
Mireia Font-Vidal: Ja, ich hatte von Anfang an den Gedanken, dass wir ein nachhaltiges Projekt aufziehen müssten. Die Idee nahm Gestalt an, als ich 2010 zur Einweihung des Nostalgiezuges Tren del Llacs (Zug der Seen) fuhr, der durch eine grandiose Landschaft entlang vier großer Stauseen von der Provinzhauptstadt Lleida bis nach Pobla de Segur im Pallars fährt.
In der nächsten Nacht konnte ich überhaupt nicht schlafen, denn ich wusste plötzlich „Das ist es!“ Wir brauchen einen Wanderweg, der mit dem Tren del Llacs, also mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu erreichen ist, weil wir so von Anfang an die Weichen auf Nachhaltigkeit stellen. Und wir können konzeptuell an die Idee vom „Zug der Seen“ anschließen, denn hier oben in den Bergen gibt es einen weiteren versteckten See, den l’Estany de Montcortès, den man vom Zug aus nicht entdecken kann. Deshalb der Name El Cinquè Llac, der „Fünfte See“.
Nachhaltigkeit ist ein Kernkonzept des Cinquè Llac. Wir wollen nicht nur Emissionen bei der Anreise reduzieren, wir achten auch darauf, möglichst wenig Abfälle zu produzieren. Wir setzen in der Gastronomie ganz auf regionale Lebensmittel und wir haben eine Route geschaffen, auf der die Gäste authentische Pyrenäenlandschaft und –kultur kennenlernen.
Katalonien-Tourismus: Das klingt super. Hattest du es leicht, deine Mitstreiter im Projekt von dieser Idee zu überzeugen?
Mireia Font-Vidal: Naja, es gab ja zunächst mal kein Projekt. Alles fing damit an, dass ich nicht schlafen konnte und statt dessen diese Idee vom Wanderweg vor Augen hatte. Also nahm ich eine Karte und suchte nach Landhotels mit gastronomischem Angebot, die für ein solches Unternehmen günstig gelegen waren. Am nächsten Morgen um acht rief ich bei all diesen Hotelbesitzern an und sagte, „Ihr müsst vorbeikommen, ich habe eine Idee!“.
Katalonien-Tourismus: Und dann?
Mireia Font-Vidal: Sie kamen am nächsten Tag. Viele von ihnen hatte ich angesprochen, weil ich den Eindruck hatte, dass sie für ein solches Projekt offen sein könnten. – Andere habe ich angesprochen, weil ihre Hotels so optimal gelegen waren. Die letzteren sind fast komplett abgesprungen. Rein wirtschaftlich gesehen, schien dieses Projekt für den einzelnen auf kurze Sicht gar nicht lohnend. Wenn man mit einer Investition von 100 Euro in Werbung für eine Saison lang den Speisesaal füllt, warum sollte man dann das Fünffache in ein Projekt mit unsicherem Ausgang investieren?
Für diejenigen, die sich zu dieser Investition entschlossen haben, ging es nicht einfach nur um schnelles Geld. Es ging darum, die Region langfristig aufzuwerten und neues Leben in die entvölkerten Dörfer zu bringen.
Mit den Interessierten gründeten wir den Verein „El Cinquè Llac“ und jeder von uns hat zunächst 500 Euro investiert, um das Projekt professionell evaluieren zu lassen, eine Website zu erstellen und Fotos in Auftrag zu geben. Wir haben dann bestehende Gebirgswege zu diesem 100 Kilometer langen Rundweg verknüpft. Schließlich befanden wir uns mitten in der Wirtschaftskrise – schon aus ökonomischen Gründen mussten wir auf bestehende Infrastrukturen zurückgreifen. Aber genau darin liegt ja auch der besondere Reiz des Weges.
Da das ganze meine Idee war, hat man mich zur Vorsitzenden des Vereins gewählt – das bedeutetvor allem, dass ich den wesentlichen Teil der Organisation übernommen habe. Ich sage immer, der Cinquè Llac ist mein viertes Kind und das, mit dem ich es am schwersten hatte. Aber die Mühe lohnt sich. Es geht um Lebensqualität für die Menschen hier. So langsam stellen sie fest, das sie mit Recht stolz auf ihre Region sein können. Das war früher ganz anders.
Katalonien-Tourismus: Wie war es denn früher?
Mireia Font-Vidal: Als wir begannen, diesen Wanderweg anzulegen, sagten die Leute aus dem Dorf „Ihr seid verrückt! Warum sollte jemand zehn Kilometer durch die Berge laufen, wenn es doch über die Landstraße nur drei sind? Sie haben die Schönheit der Landschaft und die Blicke über unsere herrlichen Berge überhaupt nicht wahrgenommen. Die einzige Assoziation, die sie zum Gehen über die alten Pfade hatten, war die Mühsal der Fortbewegung in den Jahren, bevor die Landstraßen gebaut wurden.
Nun kommen Leute von außerhalb, interessanterweise scheinen die Deutschen ein besonderes Faible für unseren Wanderweg zu haben. Aber wir hatten auch schon Gäste aus Neuseeland und Hawaii. Hawaii ist für die Leute von hier natürlich der Inbegriff der Exotik und das Traumreiseziel überhaupt. Wenn nun plötzlich ein Pärchen aus Hawaii mit den alten Leuten aus dem Dorf ins Gespräch kommt und ihnen erzählt, wie abwechslungsreich und wundervoll diese Landschaft ist, dann gibt das den Leuten zu denken und sie beginnen, ihre Region anders zu sehen. Und während sie den Gästen ihre alten Traditionen erklären, fangen sie an, diese selbst neu zu sehen und wertzuschätzen. Und sie beginnen zu begreifen, dass wir eine Kultur haben, der man sich im Gehen besonders gut annähern kann.
Ganz langsam kommt es so zu einem Bewusstseinswandel und sie machen vielleicht selbst einmal einen Spaziergang auf einem dieser alten Hirtenpfade, die sie seit 50 Jahren nicht mehr betreten haben. Oder sie stellen eine Bank an den Weg, damit die Wanderer dort ausruhen und die Aussicht genießen können, oder sie reparieren einen Brunnen, damit die Gäste dort unterwegs wieder trinken können. Sie beginnen, dieses Projekt zu ihrem eigenen zu machen, werden aktiv und entwickeln eine neue Wertschätzung für ihre Kultur und Landschaft. Und das ist so wichtig, denn letztlich macht es sie auch glücklicher…
Katalonien-Tourismus: Und wie sieht es mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Projektes aus?
Mireia Font-Vidal: 2015 war unser bislang erfolgreichstes Jahr, in dem El Cinquè Llac 100.000 Euro generiert hat. Das scheint nicht so viel, aber für eine wirtschaftlich so wenig entwickelte Region wie den Pallars ist das eine ziemlich beeindruckende Zahl. Abgesehen vom wirtschaftlichen Erfolg hat der Wanderweg der Region eine Menge Renommé eingebracht. Er wurde unter anderem mit dem Naturschutz-Preis Premio Medio Ambiente 2015 de la Generalitat de Catalunya und dem ersten Preis für nachhaltigen Tourismus I Premio de Turismo Responsable de Catalunya 2013 ausgezeichnet. In diesem Jahr hat El Cinquè Llac auf der Tourismusmesse FITUR außerdem den Preis für das beste Produkt im Aktivtourismus im Bereich Natur erhalten. (Premio al Mejor Producto de Turismo Activo en la modalidad naturaleza.)
Katalonien-Tourismus: Wie kommt es, dass für dich das Potential deiner Region so offensichtlich war, während die meisten deiner Landsleute ihre Region als so wenig attraktiv wahrgenommen haben?
Mireia Font-Vidal: Ich bin in Senterada geboren und aufgewachsen, aber als ich 18 Jahre alt war, bin ich nach Barcelona gezogen. Ich habe Archäologie studiert und natürlich bin ich zu Ausgrabungen in viele Länder gereist, von Syrien über Israel bis Frankreich. Für jemanden, der aus einem kleinen Dorf kommt, hat zu reisen gleich zwei riesige Vorteile. Erstens findet man zu sich selbst. In einem kleinen Dorf hat man immer die gleiche Rolle, die man nicht einfach ablegen kann. In der Fremde lernt man sich selbst neu kennen. Gleichzeitig beginnt man das, was man zu Hause hat, auf eine neue Art wertzuschätzen.
Katalonien-Tourismus: Letztlich bist du also wieder nach Senterada zurückgekehrt. Ist dir nie der Gedanke gekommen, einmal woanders hinzuziehen? Immerhin hast du viele interessante Orte kennen gelernt?
Mireia Font-Vidal: Nein, ich war immer sicher, dass ich in mein Dorf zurückkehren würde, selbst wenn das bedeuten würde, nicht mehr als Archäologin, sondern als Angestellte in einem Lebensmittelgeschäft zu arbeiten. Mir geht es nirgendwo besser als hier.
Irgendwann kam mir der Gedanke „Ja klar, ich eröffne Casa Leonardo, das alte Hotel meiner Großmutter wieder!“ Das Hotel war seit 1975 geschlossen, aber ich bin in diesem Haus aufgewachsen. Als ich klein war, habe ich mit meinen Geschwistern in den heutigen Gästezimmern im oberen Teil des Hauses verstecken gespielt. Das Obergeschoss wurde nicht benutzt und eignete sich mit all seinen Winkeln, Treppen und Stiegen ganz hervorragend zum Spielen.
Als ich auf einer Ausgrabung im Vall de Boí war, habe ich bei einer Familie in einem ganz ähnlichen Landhotel gewohnt. Damals dachte ich, „Wunderbar, ich eröffne Casa Leonardo wieder und arbeite nebenbei als Archäologin. Die Realität hat dann gezeigt, dass diese beiden Jobs nicht miteinander vereinbar sind. Aber als wir den Wanderweg eröffneten, zeigte sich, dass ich auch hier eine Verbindung zur Archäologie schaffen konnte.
Die alten Gebirgspfade werden von Trockensteinmauern gegen Erosion geschützt, die auch gleichzeitig die öffentlichen Wege von den privaten Feldern abgrenzen. Diese Trockensteinarchitektur ist ein Jahrhunderte- zum Teil sogar Jahrtausende altes kulturelles Erbe. Zehn Prozent der Einnahmen des Cinquè Llac werden investiert, um diese typische Pyrenäenarchitektur in Stand zu halten. Übrigens läuft inzwischen ein Antrag bei der Unesco, die Trockensteinarchitektur Europas zum Weltkulturerbe zu erheben.
Katalonien-Tourismus: Und dein Hotel, Casa Leonardo, gehörte seit jeher deiner Familie?
Mireia Font-Vidal: Mein Großvater hat Casa Leonardo gebaut. Er war sehr viel älter als meine Großmutter, es war eine dieser arrangierten Ehen, wie sie damals auf den Dörfern üblich waren. Als er starb, blieb meine Großmutter allein mit ihrer zweijährigen Tochter, meiner Mutter, zurück. In der Zeit nach dem Bürgerkrieg war es für eine alleinerziehende Mutter in einem Dorf in den Pyrenäen unheimlich hart, ein Hotel zu führen und damit ihre Familie zu ernähren.
Es war nicht nur die schwere Arbeit, sondern auch die Mühe, die es kostete, sich gegenüber den Männern, die zu jener Zeit natürlich das Sagen hatten, zu behaupten. Meine Großmutter setzte alles daran, dass ihre Tochter studieren konnte. Meine Mutter hat ihr Leben lang als Lehrerin gearbeitet – aber seit sie pensioniert ist, hilft sie mir im Hotel. Es ist schon erstaunlich, meine Großmutter hat alles daran gesetzt, den Frauen, die nach ihr kamen die „Sklavenarbeit im Hotel“, wie sie das nannte, zu ersparen – und ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als genau das zu tun.
Katalonien-Tourismus: Dafür hast du von deiner Großmutter anscheindend das Durchsetzungsvermögen geerbt?
Mireia Font-Vidal: (lacht) Ja, das mag wohl sein. Es ist nicht immer leicht, die Leute hier von neuen Ideen zu überzeugen, besonders dann nicht, wenn das für sie Veränderungen bedeutet. Es gab Bauern, die mir am liebsten Steine an den Kopf geschmissen hätten, als ich ihnen erklärt habe, dass durch ihre Weiden ein öffentlicher Wanderweg verlaufen soll. Ich bemühe mich dann, sie davon zu überzeugen, dass dieses Projekt auch für sie von großem Vorteil ist. Wenn mehr Gäste in die Region kommen, dann verkauft der Bauer zum Beispiel mehr von seinem Bio-Rindfleisch. Man muss die Vorteile für alle Seiten kommunizieren – und natürlich hartnäckig bleiben. Und das lohnt sich.
Ich könnte den ganzen Tag damit verbringen zu erzählen, wieviele wunderbare Dinge durch diesen Wanderweg passiert sind. Vor kurzem hat zum Beispiel ein Fotograf für eine Zeitschrift ganz großartige Fotos von einigen alten Menschen aus dem Dorf gemacht. Von einer alten Dame, die hier seit Jahrzehnten eine Marienstatue hütet, von einem Hirten und einem alten Herrn, der mit seinen 84 Jahren noch immer auf die traditionelle Art Wurst für uns herstellt.
Der Verein El Cinquè Llac hat dann eine kleine Feier zu Ehren der Protagonisten dieser Fotoserie organisiert und die Bilder großformatig abgezogen. Am nächsten Tag kam die alte Dame zu mir nach Hause und sagte, wir hätten ihr am Vortag das größte Geschenk ihres Lebens gemacht. Und der alte Herr, der die Wurst herstellt, hat am nächsten Tag seinen Laden neu gestrichen, um das Foto auf eine saubere Wand hängen zu können. Es war wohl 20 Jahre her, dass er das letzte Mal gestrichen hatte.
Die Leute spüren durch solche Dinge eine ganz ungewohnte Wertschätzung für das, was sie tun. Sie werden aktiver und dadurch werden sie insgesamt glücklicher. Vor einigen Wochen hat sogar eine Gruppe von Rentnern aus unserem Nachbardorf Sort einen Ausflug auf dem Wanderweg Cinquè Llac unternommen. Und weißt du, was sie gesagt haben: „Unglaublich! So eine wunderschöne Landschaft! Ein großartige Idee, dieser Wanderweg…“
Hintergrundinfo zur Region Pallars
Der Landkreis Pallars liegt in den Zentralpyrenäen ganz im Nordwesten Kataloniens. Seit jeher haben die Menschen in dieser gebirgigen Grenzregion zwischen Frankreich, Aragón und Andorra von Ackerbau und Viehzucht gelebt und sich im wesentlichen von ihrer eigenen Produktion selbst ernährt. Es gab wenig Handel und die wenigen Industrien wie der Eisenabbau und der Holzhandel versiegten bereits ab dem 18. Jahrhundert.
Die Ernten der Bauern und damit auch die demographische Situation waren bestimmt durch Klima- und Witterung sowie Schädlingsplagen auf den Feldern. Im 19. Jahrhundert machten einige sehr kalte Jahre mit wenig Niederschlag den Landwirten zu schaffen. Die darauf folgende Reblausplage verschlimmerte die Situation und führte dazu, dass etwa ein Fünftel der Einwohner nach Amerika emigrierte.
Die wirtschaftliche Lage entspannte sich mit der Entstehung der Wasserkraftwerke ab 1912, als man begann, die großen Talsperren von Capdella und Tremp zu erbauen. Es folgte eine Periode wirtschaftlicher und demographischer Stabilität, die mit Beginn des Bürgerkrieges im Jahr 1936 schlagartig endete. Zwischen 1936 und 1939 verlor die Region erneut ein Fünftel der Bervölkerung. Die 50er-Jahre bescherten dem Pallars einen Aufschwung dank des Baus der Wasserkraftwerke im Becken des Noguera Ribagorzano und dem Alt Pallars.
Die Entwicklungen der 60er-Jahre schienen der Region hingegen einen finalen Schlag zu versetzen: Die fortschreitende Industrialisierung Barcelonas und schlechte Ernten führten dazu, dass nun ein Drittel der Bevölkerung in die industrialisierten Gebiete in der Nähe der Hauptstadt abwanderte. Von da an bewegte sich die Einwohnerzahl des Landkreises Pallars mit gewissen Fluktuationen um die 20.000-Marke.
In den 80er-Jahren entwickelt sich ein neues Wirtschaftsmodell: der Tourismus. In den Küstenregionen hatte dieser bereits in den 50er-Jahren eingesetzt, die Pyrenäen hingegen waren Rückzugsort für einige wenige Wanderer und Touristen, die hier fischten oder Ski fuhren. Ab 1985 gewannen die Schnee- und Abenteuersportarten und damit der Dienstleistungssektor in der Region immer mehr Bedeutung.
Der Tourismus begann für viele Familien zur Haupteinkommenssäule zu werden, weshalb in den folgenden Jahren die landwirtschaftliche Produktion zurückging während die Beschäftigung im Tourismus allmählich immer mehr zunahm. Heute leben im Pallars ca. 24.000 Menschen. Die geographische und wirtschaftliche Isolierung, der die Region über lange Zeit ausgesetzt war, hat letztlich dazu geführt, dass hier die authentische Pyrenäenkultur und ihre alten Traditionen erhalten blieben und für Gäste in unverfälschter Form erfahrbar sind.
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