Die Weinkellerei des Sindicat Agrícola del Pinell de Brai ist weltberühmt. Nicht umsonst gilt sie als ein Meisterwerk unter den Wein-Kathedralen Kataloniens. Ihr Erbauer, César Martinell, hat hier das architektonische Zusammenspiel von Form und Funktion zur Perfektion geführt. Damit nicht genug, er hat auch die gesamte Spannbreite künstlerischer und stilistischer Mittel seiner Zeit in dieses einzigartige Bauwerk fließen lassen. Die Catedral del Ví von El Pinell de Brai vereinigt in sich die Ästhetik des Modernisme und die Funktionalität des Noucentisme. Das Ergebnis: Ein Gebäude, in dem Tarragonas Weinbauern des 20. Jahrhunderts mit Stolz arbeiteten und das heute Besucher aus aller Welt anzieht.
Alle Fotos dieses Beitrags wurden zur Verfügung gestellt von Villa Retiro Grup.
Die Reblaus – Mutter aller Wein-Kathedralen
Die Geschichte der Wein-Kathedralen beginnt mit einem britischen Schiff, das von Amerika kommend den Atlantik durchquerte. Es transportierte winzige blinde Passagiere. Ausgehend vom Rhône-Tal fielen diese ab 1863 als Plage über die Weinberge Europas her. 1879 hatte die Reblaus die Pyrenäen überquert. Zwei Jahrzehnte später erreichte sie die Terra Alta. Um 1910 hatte die Region ihre gesamten Weinpflanzungen verloren.
So kam es, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Landarbeiter die Terra Alta verließen. Sie suchten ihr Glück in den Städten, wo die Textilindustrie brummte. Andere blieben. Im Angesicht der Zerstörung der alten Reben formte sich hier die Idee der Zukunft des katalanischen Weines. Diese Zukunft hatte ihre Wurzel in der Vereinigung aller Kräfte der katalanischen Weinbranche. Winzer, Unternehmer, Landarbeiter und viele andere schlossen sich zu Genossenschaften zusammen. So wurde es möglich, sämtliche Produktionsprozesse und auch die damit verbundenen Dienstleistungen zusammenzuführen. Die Weinbranche erlebte eine neue Blüte und fand zu einem nie gesehenen Selbstbewusstsein, das seinen architektonischen Ausdruck in den Kathedralen des Weins fand.
Kathedralen, Schiffe und Parabelbögen
Den Namen „Wein-Kathedralen“ verdanken die modernen Weinkellereien einerseits der frappierenden Ähnlichkeit ihrer Struktur mit christlichen Gotteshäusern. Andererseits legt auch ihre erhabene Größe diese architektonische Verwandschaft nahe. Die Wein-Kathedrale von El Pinell de Brai gliedert sich in ein Mittelschiff und zwei Seitenschiffe. Zum Grundriss einer Basilika würde hier nur noch ein Querschiff mit Apsis fehlen. Statt dessen erhebt sich ein viertes Schiff über dem Mittelschiff. Gemeinsam mit dem Seitenschiff der Ostseite beherbergt dieses Mittelschiff sechs Fässerreihen und die unterirdischen Aufbewahrungsbehälter. Demgegenüber war das nach Westen ausgerichtete Seitenschiff mit allem Notwendigen für die Produktion von Olivenöl ausgestattet.
Ästhetik und Funktionalität
Das vierte Schiff beherbergte den Maschinenraum. Sein hölzerner Dachstuhl ist vermutlich Resultat eines Budgetproblems, denn in allen anderen Räumen präsentiert sich die Kellerei in der Pracht einer Kathedrale. Ausgestattet mit den für Martinell so typischen offenen Spandrillen und Parabelbögen im Gaudíschen Stil ist sie ein Schmuckstück der Architektur des Modernisme. Nicht minder bedeutsam als die Ästhetik des Gebäudes war jedoch seine Funktionalität.
Für die Kooperative war es von vitalem Interesse, bauliche Voraussetzungen zu schaffen, die den Produktionsprozess optimierten. Gleichzeitig sollte auch die Qualität des Weines noch weiter gesteigert werden. Insofern ist die Wein-Kathedrale von Pinell de Brai nicht nur eine herausragende architektonische Leistung. Viel mehr muss man sie auch als beispielhaftes Unternehmen zur Rationalisierung von Arbeitsprozessen im ländlichen Raum betrachten.
César Martinell
César Martinell war nicht nur Architekt, er hatte auch einen ausgeprägten Sinn fürs Praktische. Darüber hinaus ist seine Herangehensweise an den Bau der Kathedralen des Weines Ausdruck einer Lebensphilosophie. Diese wurzelte einerseits in den kulturellen Strömungen jener Zeit, insbesondere dem Noucentisme. Andererseits zeigt sie viele Ansätze, die wir heute als „nachhaltig“ bezeichnen. Nicht zuletzt verdankt sich die Größe der Architektur Martinells auch seiner ausgeprägten Empathie für die Bedürfnisse seiner sehr speziellen Klientel.
Ein Architekt erforscht die Welt des Weines
Die neuen architektonischen Anforderungen, die durch die Bildung der Weingenossenschaften entstanden, waren noch nicht klar ausgelotet. César Martinell erkannte das Potential, den diese neue Nachfrage des Marktes für seine Karriere haben könnte. Um die Bedürfnisse seiner Kunden gänzlich zu verstehen, verbrachte er viele Stunden mit den Weinbauern, um die Prozesse der Weinproduktion nachzuvollziehen. Später stellte er selber Wein her, um sein Verständnis noch zu vertiefen. Im Zuge der Skizzierung des Produktionsschemas suchte er außerdem die Nähe herausragender Ingenieure und Enologen.
Wein und Industrial Engineering
So entwarf er nicht nur das Gebäude, in dem stilistisch der Einfluss seines Lehrers Gaudí deutlich sichtbar ist. Er zeichnete auch verantwortlich für die räumliche Verteilung der verschiedenen Produktionsbereiche. Martinell kümmerte sich um Form und Lage der Tanks und berücksichtigte die spezifischen Fermentationsbedingungen. Auch Belüftungssysteme und die Maßnahmen für Isolierung und Zirkulation von Flüssigkeiten wurden unter seiner Regie angelegt. Das übergeordnete Ziel all dieser Arbeiten war die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und folglich die Optimierung der Weinproduktion.
Dreifaltigkeit in der Industriearchitektur
Martinell strebte stets ein Gleichgewicht von Zweckdienlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Ästhetik an. So zielte die Gestaltung der Weinkellereien darauf ab, den Produktionsprozess zu optimieren. Um Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit zu gewährleisten, verwendete man vor Ort vorhandene Materialien, die leicht zu beschaffen waren. Vor allem aber sollten die Menschen, die hier arbeiteten, sich wohl fühlen und stolz auf ihren Arbeitsplatz sein.
Architektur + Soziologie = Kunst?
Doch Martinell war nicht nur ein Architekt mit beeindruckenden Fähigkeiten im Industrial Engineering, er war auch Humanist. Als solcher beleuchtete er Leben und Arbeitsbedingungen der katalanischen Landarbeiter auch unter sozialen Aspekten und studierte eingehend das noch ganz junge Phänomen des Kooperativismus. In weniger als zehn Jahren schuf er mehr als 40 Gebäude für Kooperativen. Die künstlerische Qualität seiner Industriearchitektur stellt ihn in eine Reihe mit Größen wie Antoni Gaudí, Lluís Domènech i Montaner und Josep Maria Jujol.
Die Eingangsfassade
Die gekonnte ästhetische und funktionale Nutzung einfacher, lokaler Materialien zeigt sich bereits an der Eingangsfassade. Das Mauerwerk aus Ziegelstein war durchbrochen von Lüftungsöffnungen, die für das Raumklima von großer Bedeutung waren. Steinerne Türumrahmungen und große Fenster mit Mittelsäulen aus Gitterstein sind ein echter Blickfang. Extravagant und typisch für das Werk von César Martinell sind die grün glasierten Dachziegel.
Das Leben der Arbeiter
Das absolute Schmuckstück der Außenmauern der Weinkellerei ist jedoch der Keramikflies von Xavier Nogués. Mit manchmal hintersinnigem Humor sind dort Alltagsszenen der Öl- und Weinproduktion dargestellt.
Heute fungiert die Wein-Kathedrale von Pinell de Brai als Restaurant und Veranstaltungsort. Bei geführten Besichtigungen kann man lokalen Wein und Olivenöl verkosten. Weitere Infos gibt es hier.
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