Die Sagrada Familia ist das Wahrzeichen Barcelonas – und die wohl berühmteste Baustelle Europas. Der Grundstein der Basílica i Temple Expiatori de la Sagrada Família wurde 1882 gelegt, damals noch unter Leitung des Architekten Francisco de Paula del Villar y Lozano, der den Bau im neogotischen Stil entworfen hatte. Uneinigkeiten mit dem Bauträger bewegten diesen jedoch schon wenig später zum Rückzug aus diesem Projekt. Ein junger, damals noch völlig unbekannter Architekt aus Reus trat seine Nachfolge an. Sein Name war Antoni Gaudí.
Der junge Mann stammte aus einfachen Verhältnissen. Der Vater war Kesselschmied und auch der Sohn fühlte sich zum Handwerk hingezogen. Neben seinem Architekturstudium und der Assistenz in einem Architekturbüro hatte er bei Schreinern, Glasmachern und Schlossern gelernt. An der Universität war er weniger durch die Kontinuität seiner Mitarbeit aufgefallen, als durch herausragende Leistungen in mathematischer Berechnung, Zeichnen und Design.
Im Laufe der kommenden Jahrzehnte sollte seine Arbeit das Stadtbild Barcelonas in unnachahmlicher Weise prägen. Sein ebenso revolutionärer wie tief in der europäischen Geschichte und der Landschaft des Mittelmeerraumes verwurzelter Baustil würde zum Inbegriff der Architektur des katalanischen Jugendstils, des Modernisme, werden.
Ungerührt von seinem Ruhm würde er die letzten zwölf Jahre seines Lebens in ausschließlicher Hingabe an die Arbeit an jenem Projekt leben, das er als junger Mann begonnen hatte: dem Sühnetempel der Heiligen Familie. Zwar hielt er sich im Wesentlichen an die Planvorgaben seines Vorgängers, entwickelte sie jedoch in der Vertikalen weiter. Er stattete die Kirche mit 18 himmelstrebenden Türmen aus, von denen jeder eine symbolische Bedeutung hat. Den Grundriss in Form eines lateinischen Kreuzes mit fünf Jochen im Hauptschiff und dreien im Querschiff versah er mit drei Fassaden, über denen sich jeweils vier mächtige Glockentürme erheben. Die von de Villar im neogotischen Stil geplante Kirche entwickelte Gaudí im Stil des Modenisme zu einer monumentalen Kathedrale weiter.
Als er im Juni 1926 von einer Straßenbahn angefahren wurde, erkannte niemand in ihm den großen Architekten. Man lieferte den alten Mann in ein Armenhospital ein, wo ihn Tage später sein Assistent fand und in eine komfortablere Einrichtung bringen ließ. Dort erlag Antoni Gaudí bald den Folgen seiner Verletzungen. Seine sterblichen Überreste ruhen in der Kapelle der Jungfrau vom Karmel in der Krypta der Sagrada Familia. Die im Jahr 1889 unter Gaudí vollendete Krypta ist bis heute der einzige komplett fertiggestellte Raum der Kathedrale, die im Jahr 2016 die Rekordzahl von 4,5 Millionen Besuchern empfing. Wer der Sagrada Familie einen virtuellen Besuch abstatten möchte, findet hier die Möglichkeit dazu.
Die Sagrada Familia als Teil der Stadt-Landschaft
Im schachbrettartig angelegten Stadtteil Eixample nimmt die Baustelle der Sagrada Familia einen kompletten Straßenblock mit einem Umfang von 17.822m2 ein. Der Grundriss der Kirche war von Francisco de Paula del Villar auf einer Achse entwickelt worden, die diagonal zum rechtwinkligen Straßenverlauf des Ensanche verlief, womit Gaudí nicht glücklich war. Zufrieden zeigte er sich hingegen mit dem Standort im neu entstehenden Zentrum von Barcelona, der gleich weit von den benachbarten Flüssen, den Bergen und dem Meer entfernt war. Dass Gaudí die Sagrada Familia im Kontext der sie umgebenden Landschaft konzipierte, wird auch in den Dimensionen der geplanten 18 großen Kirchtürme deutlich. Der höchste von ihnen wird mit einer kalkulierten Höhe von gut 172,5m den bislang höchsten Kirchturm der Welt, das Ulmer Münster, um mehr als elf Meter überragen. Jedoch ist die Höhe so gewählt, dass die Türme nicht höher als die umgebenden Berge Barcelonas sind. Der Mensch, so der Hintergedanke, soll nicht versuchen, seine Werke größer erscheinen zu lassen als das Werk Gottes.
Das Gedankengebäude
Den sich beständig weiterentwickelnden Entwürfen der Sagrada Familia lag Gaudís Annahme zu Grunde, dass eine Kirche die Botschaft des christlichen Glaubens erfahrbar machen solle. Gleichzeitig sah er in der Kirche den repräsentativsten Bau eines Volkes. Gaudís überquellende symbolische Vorstellungskraft manfestiert sich deshalb in Architektur und Reliefarbeiten der Sagrada Familia in mannigfaltiger Form. Embleme, Schutzheilige und Zeitgenossen Gaudís in Gestalt biblischer Figuren zieren die Bauelemente der Sagrada Familia ebenso wie typische Elemente der katalanischen Flora und Fauna.
Insofern ist die Sagrada Familia nicht nur eine Kathedrale, deren innovative Bauprinzipien entscheidenden Einfluss auf die Architektur des 20. Jahrhunderts nahmen, sie ist auch multidimensionaler Ausdruck des Welt- und Menschenbildes ihres Schöpfers. Dieser war tief verwurzelt im christlichen Glauben und besaß eingehende Kenntnisse der Symbole und Rituale der katholischen Liturgie. Mindestens so bedeutsam wie die Bibel, die Evangelien und die liturgischen Symbole war für Antoni Gaudí die Natur, die er als seine große Lehrmeisterin sah.
Die Fassaden
Die Fassaden der Sagrada Familia sind eine in Stein gemeißelte Repräsentation der grundlegenden Annahmen des christlichen Glaubens. Die nach Osten ausgerichete Fassade feiert die Geburt des Gottessohnes in der plastischen Darstellung bedeutender Ereignisse aus der Kindheit und Jugend Jesu Christi und wird deshalb auch die „Geburtsfassade“ genannt. Sie wurde noch zu Lebzeiten Gaudís im Wesentlichen fertiggestellt und zeigt den klassischen Stil des katalanischen Architekten.
Die drei Portale der Fassade symbolisieren die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe. Aufgeteilt in vier Abschnitte zeigt die Fassade zum Beispiel den Weg Marias und Josephs nach Bethlehem, die Geburt Jesu, die Anbetung der Hirten und Könige sowie die Vorstellung des jungen Jesus im Tempel. Auf dem Mittelportal erhebt sich als Baum des Lebens eine Zypresse.
Die Westfassade ist dem Leidensweg Jesu Christi, seinem Tod am Kreuz und seiner Wiederauferstehung gewidmet. Die Skulpturen dieser sogenannten Passionsfassade stammen vom katalanischen Maler und Bildhauer Josep Maria Subirach und kontrastieren in ihrem Stil stark mit den Arbeiten Gaudís an der Ostfassade. Subirachs Darstellungen des Kusses des Judas, der Geißelung und schließlich der Kreuzigung im Mittelportal beeindrucken mit klaren Linien und kantigen Formen der Figuren. Für manche Kritiker ist der moderne Stil Subirachs unvereinbar mit dem Geist der Arbeiten Gaudís, der die Sagrada Familia so einzigartig macht. Andere sind der Ansicht, dass gerade die kantigen geometrischen Formen dieser Figuren geeignet sind, das Leiden Christi in intensiver Weise zu unterstreichen. Subirachs begann 1986 an den Arbeiten für die Westfassade und hat ihr im Laufe von 20 Jahren über 100 Skulpturen hinterlassen.
Die Südfassade ist als Glorienfassade konzipiert, deren Botschaft die Hoffnung auf Erlösung und Eintritt des Menschen in die himmlische Herrlichkeit ist. Bis heute ist diese dem Meer zugewandte Hauptfassade jedoch noch eine kahle Wand, die auf künstlerische Verwirklichung wartet.
Die Türme
Bei ihrer Vollendung, die derzeit zum 100. Todestag Gaudís im Jahr 2026 geplant ist, soll die Sagrada Familia 18 Türme besitzen. Zwölf von ihnen werden den Aposteln gewidmet, je vier von ihnen überragen mit einer Höhe von 90-122m eine der drei Fassaden, manche von ihnen sind über schmale Steintreppen miteinander verbunden. Ihre Form soll an den Krummstab der Bischöfe erinnern, ihre farbenfrohen Spitzen sind mit Tieren oder sakralen Symbolen und Anrufungen des Höchsten geschmückt. Jeder von ihnen trägt ein goldenes Kreuz mit dem Namen des jeweiligen Apostels.
Vier weitere Türmen sollen den Evangelisten gewidmet werden, einer der Gottesmutter Maria (125m). Der Hauptturm der Basilika wird Jesus Christus gewidmet sein und mit einer Höhe von 172,5m alle anderen Türme überragen.
Die Natur als Lehrmeisterin: Parabelkurven, Regelflächen und Säulen wie Bäume
Viele Experten der heutigen Zeit sind davon überzeugt, das Gaudí ein mathematisches Genie war und dass jedes einzelne dekorative Element der Sagrada Familia gleichzeitig auch eine architektonische Funktion hat.
Gaudí arbeitete in seiner Architektur mit gebogenen Formen, die häufig in der Natur vorkommen, zum Beispiel mit der Parabelkurve. Diese ermöglicht in den vertikalen Abschnitten der Sagrada Familia die Entwicklung der Innenräume nach oben. Die Stützen nehmen eine Schrägstellung ein, weil sie Teil der Parabelkurve sind und sich in weitere kleine Stützen verzweigen, welche wiederum die Gewölbe der Kirche tragen. Diese baumförmige Struktur tritt insbesondere in den Deckengewölben in Beziehung zu einer weiteren Besonderheit der Gaudíschen Architektur.
Bei seinen genauen Beobachtungen und Studien der Natur entdeckte Gaudí, dass viele in der Natur zu findende Formen sich geometrisch als Regelflächen (zweiseitig gekrümmte Flächen, die jedoch aus Geraden generiert werden) darstellen lassen. Er begann intensiv mit Regelflächen in der Architektur zu experimentieren, wie bereits in seinem Entwurf der Kirche der Colònia Güell exemplarisch zu sehen ist. In der Sagrada Familia erweist sich die fantastische Geometrie des Deckengewölbes als komplexe Kombination unterschiedlicher Regelflächen.
Licht und Farben
Licht und Farben spielen eine besondere Rolle in der Architektur Gaudís. Das gilt ganz besonders für die Sagrada Familia. Farben waren für Gaudí Ausdruck von Leben und Lebendigkeit und deshalb ein unverzichtbares Gestaltungselement der Sagrada Familia, das an Türmen, Fassaden, Fenstern und Innenräumen der Kathedrale sichtbar ist.
Die Bedeutung, die er der Rolle des Lichtes im Raum beimaß, zeigte sich bereits in den Veränderungen, die er an der von seinem Vorgänger gestalteten Krypta vornahm. Deren Gewölbe erhöhte er so weit, dass von oben Licht einfallen konnte. Was in der Krypta begann, setzt sich in allen weiteren Elementen der Kathedrale fort. Sonnenstrahlen lassen die Giebel der Türme und die Kirchenfenster erstrahlen. Die Morgensonne taucht die Geburtsfassade in sanftes Licht, das Spiel von Licht und Schatten der Abendsonne vertieft die schweren Dimensionen der Westfassade.
Nach Gaudís Willen sollte das Licht im Inneren der Kathedrale eine Atmosphäre erzeugen, die es dem Besucher ermöglicht, zur Ruhe zu kommen und den Geist nach innen und auf Gott auszurichten. Dieser Maßgabe Gaudís entsprach der für die Gestaltung der Kirchenfenster zuständige Künstler Vila Grau mit seiner abstrakten Glasmalerei, die sich dem Ziel verschrieben hat, in ihrem Farben- und Formenspiel jene Atmosphäre zu erzeugen, die Gaudí gewünscht hatte
Baugeschichte
Nachdem Gaudí im Jahr 1926 gestorben war, wurden die Bauarbeiten immer wieder unterbrochen. 1935 konnte die Geburtsfassade jedoch endgültig fertiggestellt werden. Während des Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 wurden Teile der Geburtsfassade und der Krypta von antiklerikalen Gruppen niedergebrannt und große Teile der ursprünglichen Baupläne, Zeichnungen und Modelle wurden zerstört oder gingen verloren.
Nach Kriegsende fanden sich Architekten und Mitarbeiter, die in jungen Jahren mit Gaudí gearbeitet hatten zusammen, um die Modelle aus den übriggebliebenen Trümmern und erhaltenen Fotos zu rekonstruieren. Die ersten drei architektonischen Leiter der Sagrada Familia, Francesc de Pala Quintana i Vidal, Isidre Puig-Boada und Lluís Bonet i Garí hatten Gaudí alle noch persönlich gekannt und mit ihm gearbeitet.
Es folgten Jordi Bonet i Armengol und Jordi Faulí i Oller, der den Bau seit dem Jahr 2012 leitet. Im Jahr 2010 weihte Papst Benedikt XVI die Kirche und erhob sie zur päpstlichen Basilica minor.
In den über 90 Jahren, die seit dem Tode Gaudís vergangen sind, kamen immer wieder Diskussionen auf, in welcher Form und ob überhaupt der Bau der Sagrada Familia sinnvoll fortgeführt werden könne.
Die Unvollendete
Bis heute ist die Kathedrale unvollendet und so manches architektonische oder ganz weltliche Problem wartet weiterhin auf eine Lösung. So stehen zum Beispiel dort, wo sich nach Gaudís Plänen der weite Vorplatz der Kathedrale erstrecken sollte, heute mehrere Gebäude. Ob und wann die Sagrada Familia vollständig nach den Plänen ihres genialen Schöpfers verwirklicht werden kann, steht in den Sternen. Gaudí war sich dieser Tatsache schon zu Lebzeiten bewusst und begegnete ihr gelassen. „Mein Auftraggeber hat keine Eile“, soll er gesagt und dabei zum Himmel geblickt haben.
Weitere Infos unter www.sagradafamilia.org