Mit seinen labyrinthischen Gassen, steilen Treppen und stillen Hinterhöfen gilt das Call de Girona nicht nur als Pflichtprogramm für jeden Besucher der Stadt – es zählt auch zu den best erhaltenen Jüdischen Vierteln weltweit. Seine mittelalterliche Atmosphäre macht das Call zur begehrten Kulisse für große Film- und Fernsehproduktionen: Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders oder die sechste Staffel der Erfolgsserie Game of Thrones sind nur zwei von vielen berühmten Beispielen.
Über das Leben der Jüdischen Gemeinschaft in Girona, die hier vom 9. Jahrhundert bis zu ihrer Vertreibung im Jahr 1492 eine ganz eigene Identität und Kultur pflegte, erfährt man bei einem Bummel durch die labyrinthischen Gassen des Viertels jedoch wenig. Doch dies würde sich lohnen, denn die Geschichte der jüdischen Bewohner Gironas ist spannend und ihre Kultur gewinnt umso mehr Faszination, je mehr man von ihr erfährt und sich auf sie einlässt.
Wer einen Zugang zu den Geheimnissen des Viertels, zur Geschichte der jüdischen Kultur in Katalonien und deren nur scheinbar verborgenen Verbindungen zur Gegenwart sucht, dem sei dringend ein Besuch im Museum für Jüdische Geschichte des Patronat Call de Girona empfohlen. Dieses beherbergt neben der großen permanenten Ausstellung zu den unterschiedlichsten Aspekten des Lebens der Jüdischen Gemeinschaft im historischen Girona auch temporäre Ausstellungen, die überraschende Schlaglichter auf interessante Facetten der jüdischen Kultur setzen. Derzeit ist zum Beispiel eine Ausstellung zu den Mikwes, den rituellen jüdischen Bädern Gironas zu sehen.
„Je mehr wir von einer Kultur wissen, umso mehr können wir sie schätzen“
Assumpció Ahosta, die Direktorin des Patronat Call de Girona, möchte bei den Besuchern des Museums vor allem eines erreichen: „ Wir sehen es als unsere Aufgabe, das Interesse an einer eigenständigen, hochentwickelten Kultur zu wecken, die für uns in weiten Teilen unbekannt ist. Das ist besonders wichtig in Zeiten schwelender Konflikte. Je mehr wir über eine Kultur wissen, umso mehr können wir sie schätzen.“
Assumpció selber weiß inzwischen jede Menge über die Jüdische Kultur. Ihre berufliche Laufbahn fasst sie so zusammen: Geschichtsstudium, danach Leitung einer eigenen Firma und 1992 wurde sie gebeten, die Leitung des Patronat Call de Girona zu übernehmen. Damit ist Assumpció mit dem Jüdischen Museum von Girona seit dem ersten Tag seines Bestehens verbunden. „Manche Leute wechseln eben alle vier, fünf Jahre ihren Job, und andere erfinden sich in dem Job, den sie haben, immer wieder neu.“
Stagnation oder ein Verweilen beim Althergebrachten gehört für Assumpció Ahosta offenbar zu den eher undenkbaren Formen, einen Job zu machen oder ein Museum zu leiten. „Wir arbeiten hier im kleinen Format, mit kleinem Budget und kleinen Ausstellungen, bei denen es uns viel mehr darum geht, die Neugier und die Kreativität zu wecken als darum, eine vollständige Erklärung aller Einzelheiten eines Themas zu geben“, sagt Ahosta. Um Synergien zu schaffen, arbeitet das Museum einerseits mit großen Institutionen wie der Bibliothek von Jerusalem zusammen, andererseits will man auch junge Forscher und Studenten anregen, zum Thema der jüdischen Kultur und Geschichte zu arbeiten.
Ein Europäisches Projekt
So kooperiert das Museum zum Beispiel mit der AEPJ, die sich für den Erhalt und die Vermittlung jüdischer Kultur in Europa einsetzt. Neben der Ausstellung zu den Rituellen Bädern hat das Patronat zum Beispiel im November 2016 eine Tagung zu den jüdischen Sprachen in Europa mitorganisiert. Für das kommende Jahr stehen außerdem Projekte zur jüdischen Diaspora und zu den Routen der jüdischen Flüchtlinge durch die Pyrenäen an. Das letztgenannte Projekt ist besonders interessant für historisch interessierte Wanderer, und wir werden beizeiten darüber berichten: Hier geht es nicht nur darum, die Fluchtrouten der Juden durch die Pyrenäen aufzuzeigen, sondern auch darum, heutigen Wanderern die Möglichkeit zu geben, die Geschichten dieser Flucht bei eigenen Wanderungen auf historischen Routen nachzuvollziehen.
Kultur „am eigenen Leib“ erfahren
Jüdische Kultur und Geschichte sozusagen „am eigenen Leib“ erfahrbar zu machen, ist ein wesentlicher Teil des strategischen Fundus des Museums. Dessen Arbeit hört nämlich nicht an den Grenzen der Ausstellungsräume auf, sondern wirkt hinein in das kulturelle Leben Gironas und von dort aus in das kollektive Bewusstsein der Stadt und ihrer Besucher.
„Wir möchten nicht nur die jüdische Kultur des mittelalterlichen Kataloniens vorstellen, wir möchten auch eine Brücke zur Gegenwart schlagen“, sagt Assumpció Ahosta. Deshalb organisiert das Patronat Call de Girona immer wieder Aktivitäten und Veranstaltungen, bei denen die heutige jüdische Kultur im Mittelpunkt steht. So finden beispielsweise jährlich im Sommer in Kooperation mit dem Festival des Jüdischen Kinos in Barcelona die „Filmnächte im Call“ statt. Es gibt den Lesezirkel für Jüdische Literatur, das Festival der Jüdischen Musik und natürlich spielt auch die Kulinarik eine bedeutende Rolle, wenn im Call von Girona jüdische Kultur erfahrbar gemacht wird.
Die Früchte der Arbeit
Dass die Arbeit des Patronats Früchte trägt, wird besonders deutlich, wenn katalanische Akteure aus Wissenschaft und Wirtschaft mit Fragen auf die Institution zukommen, die sich vor dreißig Jahren vermutlich niemand gestellt hätte. „Wenn zum Beispiel die Organisatoren eines Kongresses an der Universität von Girona bei uns anfragen, wie und wo sie koscheres Essen für orthodoxe jüdische Teilnehmer organisieren können, oder wenn ein Winzer sich erkundigt, wer ihn über die Herstellung koscherer Weine informieren kann, dann merke ich, dass sich das Bewusstsein der Menschen in den letzten Jahren verändert hat“, sagt Assumpció. Der besagte Winzer produziert übrigens inzwischen sehr erfolgreich hochwertigen koscheren Wein, der fast komplett exportiert wird. Er ist nicht nur ein schönes Beispiel für erfolgreiche wirtschaftliche Beziehungen zwischen Katalonien und Israel, sondern auch ein Paradebeispiel dafür, dass Interesse und Offenheit für eine fremde Kultur zu neuen Ideen führen, die das eigene Leben komplett verändern können.
Facettenreich
Der Ansatz, die Neugier der Besucher zu wecken und sich selbst in Beziehung zu den Inhalten der Ausstellung zu setzen, ist auf ein breites und heterogenes Publikum ausgerichtet. Es geht in den Ausstellungen nicht um die Vermittlung religiöser Inhalte, sondern darum, verschiedene Facetten der jüdischen Kultur so zu präsentieren, dass unterschiedlichste Menschen daraus etwas für sich mitnehmen können. „Wir arbeiten viel mit Jugendlichen, die sind schließlich unsere Zukunft“, erläutert Assumpció Ahosta, „aber natürlich sollen sich 35- oder 75jährige von den Ausstellungen genauso angesprochen fühlen wie Fünfzehnjährige.
Wir mixen unterschiedliche Materialien, Präsentationstechniken und Informationen, so dass jeder sich etwas herauspicken kann, das ihn interessiert. So kann ein jüdischer Besucher des Museums, der seine Kultur gut kennt, hier jede Menge über die Geschichte und lokale jüdische Kultur Kataloniens erfahren, die anderswo wenig bekannt sind. Die nicht-jüdischen Besucher konzentrieren sich oft eher auf allgemeine Aspekte der jüdischen Kultur und weniger auf die lokalen Facetten.
Eine Rundum-Vision des jüdischen Lebens im historischen Girona
Die permanente Ausstellung gibt anhand archäologischer Funde, historischer Dokumente und architektonischer Modelle einen spannenden Überblick über die unterschiedlichen Aspekte des Lebens im Call de Girona: Feste und Traditionen, Rituale im Zyklus des Lebens und Alltagsgegenstände, die vom häuslichen und familiären Leben innerhalb des Calls erzählen, werden hier ebenso vorgestellt wie das religiöse Leben in den Synagogen und der jüdische Friedhof. Der Kontakt mit der jeweils anderen Kultur wird zum Beispiel in den Ausstellungen zur Koexistenz christlicher und jüdischer Kultur und zur Diaspora thematisiert, aber auch in jenem Teil des Museums, welcher den beruflichen Tätigkeiten der Juden von Girona gewidmet ist.
Erhellend ist auch die Ausstellung zum Vermächtnis der jüdischen Kultur, welche die wissenschaftliche, literarische und philosophische Kultur des Mittelalters stark geprägt hat. Bekanntlich konnte dies die Unterdrückung und Vertreibung der Jüdischen Gemeinschaft nicht verhindern. Dieser Prozess wird reflektiert anhand architektonischer Modelle des Jüdischen Viertels, dessen Grenzen im Zuge der zunehmenden Anfeindungen immer enger wurden und insbesondere im Ausstellungssaal, welcher der Konvertierten Gesellschaft und der Inquisition gewidmet ist.
Über die Grenzen des Museums hinaus
Komplementär zu den permanenten und temporären Ausstellungen bietet das Museum für Jüdische Geschichte von Girona Aktivitäten an, die es ermöglichen, das jüdische Erbe der Stadt aus einer neuen Perspektive zu betrachten: Zum Beispiel bei einem musikalischen Spaziergang durch die Gärten des Call oder bei einer botanischen Route, die den Blick auf Jahrtausende alte Kulturpflanzen des historischn Viertels richtet und so die oft vergessenen Verbindungen zwischen christlicher und jüdischer Kultur aufzeigt.
Wer sich für die enge Verbindung verschiedenster kultureller Strömungen Europas mit der jüdischen Kultur interessiert, der sollte einmal einen Blick auf die Thematischen Routen der AEPF Website for Jewish Heritage werfen. Wenn Sie sich zum Beispiel in Katalonien in die Architektur der Art Noveau bzw. des Modernisme verliebt haben, dann sollten Sie vielleicht einmal einen Blick auf die Internationale Route zur Architektonischen Moderne der AEPF werfen, denn hier gilt es, unter anderem, sehenswerte Synagogen des Art Noveau von Ungarn über Frankreich bis Großbritannien entdecken. Auf dem Weg zu der ebenso alten wie inspirierenden Erkenntnis, das letztlich alles mit allem zusammenhängt, ist das Museum für Jüdische Geschichte in Girona zweifellos ein wunderbarer Ausgangspunkt.
Weitere Infos unter: http://www.girona.cat/call/cat/index.php